Zvi Kolitz: Jossel Rackower spricht zu Gott – Jan Uhrynowicz

Unter Mithilfe von David Kohan aus dem Jiddischen übersetzt von Anna Maria Jokl.

38. Druck der Edition Tiessen. 1985

Mit 3 signierten Linolschnitten von Jan Uhrynowicz.

Handsatz aus 14p Original-Janson-Antiqua.
Umfang: 16 Seiten, 2 Bll.
Inhalt: Büttenpapier Vélin d’Arches.
Einband: Fadengeheftete Broschur (unter Verwendung eines einem Linolschnitt entnommenen Motivs von Jan Uhrynowicz).

Vorzugsausgabe: Eins von 60 nummerierten und signierten Exemplaren der Normalausgabe (Gesamtauflage 175 Expl.) mit zusätzlichen nummerierten und signierten Abzügen der Linolschnitte.

 

›Ich, Jossel, Sohn des David Rackower aus Tarnopol, ein Nacheiferer des Gerer Rabbi und Nachkomme der großen Zaddikim aus den Familien Rackower und Meisels, schreibe diese Zeilen, während das Warschauer Ghetto in Flammen steht; das Haus, in dem ich mich befinde, ist eines der letzten, das noch nicht brennt … Sollte jemand die Zeilen finden und lesen, so mag er vielleicht das Gefühl eines Juden verstehen, eines von Millionen, der gestorben ist verlassen von Gott, an den er so stark glaubte … Vor meinem Tode will ich als ein Lebender zu meinem Gott sprechen, wie ein einfacher, lebendiger Mensch, der den großen, aber unglückseligen Vorzug hatte, ein Jude zu sein … Du sagst vielleicht, es sei jetzt keine Frage von Strafe und Sühne, daß Du nur Dein Gesicht abgewendet hast. Ich will Dich fragen, Gott, und diese Frage versengt mich wie ein verzehrendes Feuer: was soll denn noch geschehen, damit Du uns Dein Gesicht wieder zuwendest?! … Ich kann Dich nicht loben für die Taten, die Du duldest. Ich segne aber und ich lobe Dich für Deine schreckliche Größe, die gewaltig sein muß, wenn selbst das, was jetzt geschieht, auf Dich keinen Eindruck macht. Und eben weil Du so groß bist und ich so klein, bitte ich: Ich warne Dich, um Deines Namens willen! Höre auf, Deine Größe zu beweisen, indem Du die Unglücklichen schlägst! …‹

»Von einem Hiob-Schicksal wird hier in erregender Nüchternheit berichtet; von einer Grenzsituation, in deren Feuer Glaubenspositionen ›gnadenlos‹ geprüft und gehärtet werden. Ein außerordentlicher, ja: ein ungeheuerlicher Text von geradezu alttestamentarischer Unerbittlichkeit. ›Das Echo auf die erste Sendung am 15. Januar 1955‹, schrieb Anna Maria Jokl, der wir die kongeniale Ubersetzung verdanken, ›war so ungewöhnlich, daß man sich nicht des Eindrucks erwehren konnte, in diesem Lande und eben hier habe das Manuskript seine Mission zu erfüllen.‹ Der Text wird erstmals in einer eigenen Publikation vorgelegt. Die Frage, ob ihm eine graphische Stimme antworten darf, hat fraglos grundsätzliche Berechtigung. Nach reiflicher Uberlegung habe ich Jan Uhrynowicz (Jahrgang 1943), einen polnischen Künstler, mit der Aufgabe betreut. Wir konnten uns nur brieflich kennenlernen, die Zusammenarbeit wurde durch die Ungunst der Verhältnisse nicht eben erleichtert, uns wurde viel Geduld abverlangt. Nun gewinne ich Abstand und finde: es hat sich gelohnt.« (Wolfgang Tiessen, 1985)

 

»Dieser Text war mir seit 1956 gegenwärtig geblieben; er war damals in den ›Neuen deutschen Heften‹ erschienen. Als ich mir Gedanken über das Programm der ET machte, gehörte diese Klage und Anklage zur ersten Wahl. Ich erlaube mir, an dieser Stelle zum ersten Mal aus einem Brief von Bundespräsident Richard von Weizsäcker vom 11.11.1985 zu zitieren:

›Sie wußten, wie sehr ›dieser bewegende Text jenes Hiob aus dem Warschauer Ghetto‹ mich anrühren würde. Ich kann mich nicht erinnern, wo ich schon eine vergleichbare, vor allem eine so ergreifende und bittere, aber auch so stolze und trotzige Klage aus der Tiefe der jüdischen Seele gelesen hätte – eine Klage, die immer wieder, auf jeder dieser zwölf Seiten in eine heftige Anklage gegen den Gott Israels und gegen die übrige Menschheit umschlägt, gegen die ›Welt, die sich in ihrem eigenen Bösen verzehren und in ihrem eigenen Blut ertrinken wird‹. Welch ein Text! In seiner Erhabenheit und Gewalt ist er der entsetzlichen Größe des Unheils angemessen, das ab 1933 über die europäischen Juden hereingebrochen, des Verbrechens, das an ihnen begangen worden ist. Ich danke Ihnen für die schöne bibliophile Schrift, die in Ihrem Verlag aus diesem Text entstanden ist und deren anspruchsvolle Aufmachung viel zu dem tiefen Eindruck beiträgt, den seine Lektüre hinterlässt …‹

Dieser Text wurde durch den Druck der ET erstmals wieder einem zwangsläufig beschränkten Leserkreis (zusätzlich in einer einfachen Ausgabe auf Werkdruckpapier ohne Graphik) bekannt gemacht. Erst einige Jahre später wurde er in größeren Verlagen angeboten. Ein Letztes noch sei nachgetragen: Wer so etwas liebt suche in den Linolschnitten jenes Detail, aus dem das Überzugpapier entwickelt wurde. (Vor dem Aufgeben s. Seite 17 oben rechts.)« (Aus »Wolfgang Tiessen: Rückblicke auf meine Bücher und darauf, wie es zur Edition Tiessen kam.«)

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