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Robert Chariot: Der Buchomat im Jahre 2020

Es war Sonntag und ging auf Mitternacht zu. Da überfiel ihn wieder dieser unerträgliche Durst. Ihn dürstete nach einem Buch. Er musste etwas lesen, sich etwas an­sehen, wollte seinen Verstand gebrauchen.

Um solche, in diesen Zeiten fast verdächtigen Wünsche zu befriedigen, gab es nur eine Möglichkeit: den Bucho­maten.

In der Stadt, an einigen versteckten Ecken, hatten ein paar dieser Buchspender überlebt. Man ließ sie unbe­helligt. Eine Geste des Mitleids gegenüber der winzigen Minderheit der Lesenden, die sich zäh am Leben hielt.

Der für ihn nächste Buchomat stand nur eine Straßenecke entfernt. Aber es war mitten in der Nacht und nicht ratsam, jetzt auf die Straße zu gehen.

Doch sein Durst wurde immer schlimmer. So ging er schließlich hinunter, schaute sich, die Haus­tür offen lassend, eine Weile nach allen Seiten um, beobachtete angestrengt die besonders dunklen Partien der Gegend und rannte dann los. Am Buchomaten ange­kommen, stopfte er hastig die, alten Fünf-Mark-Stücken nachgeahmten, Chips in den Schlitz und zog aus allen drei Fächern eines der ihm so kostbaren Büchlein. Bevor er zurückspurtete, mochte er es nicht unterlassen, für einen Moment zärtlich über den Automaten zu streichen. Diesen sympathischen, etwas spröden, alten Kasten.

Schwer keuchend den sicheren Hauseingang erreichend, drehte er sich noch einmal um, sah schwere Schatten sich aus nebligem Hintergrund lösen, obszöne Flüche erreichten ihn. Er war schneller gewesen, jetzt konnten sie ihm nichts mehr anhaben.

Sicher war bemerkt worden, weshalb er solch ein Risiko einging und er bekam etwas Angst um seinen Buchomaten. Hoffte, dass dieses Gerät letztendlich zu fremd und uninteressant für diese Leute war, als dass sie es jetzt oder eines anderen Tages zerstören würden.

In seiner winzigen Wohnung unterm Dach angekommen, sah er sich seine Schätze an. Er konnte zufrieden sein. Seit seinem letzten Rendezvous mit dem Buchomaten, war dessen Programm gewechselt worden. Zwei Bände sah er zum ersten Mal. Der dritte, »Automatenträume«, den er schon lange besaß und besonders liebte, ließ sich vielleicht verschenken oder unter Sammlern tauschen. Die beiden anderen waren »Die Änderung des Lebens« von Ulli Harth, mit Grafik von Jürgen Wölbing, die Nummer 1 der Reihe – endlich – und ein von Susanne Melchert gestaltetes Bändchen mit einem Text von Ray Bradbury.

Er holte seine Sammlung hervor, setzte sich, bei Kerzen­licht und einem Glas Rotwein, an den Küchentisch und breitete alles vor sich aus. Blätterte in den Büch­lein, bis der heftigste Durst gestillt.

Wieviel verschiedene Bändchen es wohl gab? Immerhin besaß er fast fünfzig Stück. Darunter auch einige Originale, die er stets mit äußerster Ehrfurcht in die Hände nahm. In einem steckte sogar noch ein handge­schriebener und schon verblaßter Zettel. Der wohl nie eingelöste Coupon für eine Grafik.

Er entdeckte die Reihe damals auf einem dieser aggres­siven Flohmärkte, über die zu schlendern nicht ungefährlich war. Er tat so, als ob er nicht bemerkte, wie ihm die Brieftasche entwendet wurde, wichtig waren ihm die Buchomat-Büchlein, die er fest an sich drückte. Was er aus den Buchomaten zog waren natürlich Kopien. Aber perfekte Kopien, perfekt wie künstliche Blumen, die man von echten erst bei der Berührung voneinander unterschied.

Seit einiger Zeit verbreitete sich das Gerücht unter Sammlern, einige Mitarbeiter der Original-Buchomat-Kunstbuchreihe seien noch aktiv. Altehrwürdige Gestalten, die sich zusammen gefunden hätten, um noch einmal, ein einziges Mal, ein neues Original-Büchlein herzustellen. Diesen Edelstein in die Hände zu bekommen, wäre für ihn das größte Glück auf Erden.

(geschrieben ca. 1996)