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Tadellos, makellos, neuwertig, einwandfrei, verlagsfrisch …

In den letzten Jahren nimmt eine Unsitte sowohl im Antiquariats- als auch im Auktionshandel inflationäre Ausmaße an: die Beschönigung von Erhaltungszuständen antiquarischer Bücher. Mag man die Bedenken des Händlers eventuell noch nachvollziehen, dass mit genauen Zustandsbeschreibungen der ein oder andere Kunde vom Kauf abgehalten wird – aus Sicht des Käufers ist diese Vortäuschung falscher Tatsachen extrem ärgerlich. Wer bereit ist für gut erhaltene Bücher teilweise sehr hohe Preise zu bezahlen, der möchte für sein Geld auch entsprechende Ware erhalten.
 
Nun ist die Wahrscheinlichkeit, dass antiquarische Titel die in der Überschrift genannten Erhaltungszustände aufweisen, umso kleiner je weiter das Erscheinungsjahr zurückliegt. Bücher dieser Güte sind extrem selten. Dementsprechend selten sollten diese Begriffe auch Verwendung finden. Stattdessen wird drauf los gelobt, dass einem schwindlig wird. Und zu beobachten ist dies leider nicht nur bei „neuen“ Antiquaren sondern auch bei „alten Hasen“, die es eigentlich besser wissen sollten.
 
Sucht man z.B. im ZVAB nach den oben genannten Begriffen ergeben sich folgende interessante Zahlen (Abruf 01.06.2015):
tadellos: 177.303
makellos: 2.430
neuwertig: 235.107
einwandfrei: 74.581
verlagsfrisch: 51.146
 
Schon diese einfache Suche zeigt, wie sehr diese Zustandsbeschreibungen antiquarischer Bücher überstrapaziert werden.
 
Gerne wird argumentiert, dass der Kunde weiß, dass er bei antiquarischen Büchern keine Neuware erhält. Richtig. Aber warum werden dann Begriffe für die Anpreisung des Erhaltungszustandes verwendet, die genau das vortäuschen? Die Begriffe „tadellos, makellos, neuwertig, einwandfrei, verlagsfrisch …“ definieren ganz klar, dass hier ein Produkt ohne Fehl und Tadel vorliegen sollte. Schon ein einmal und sorgsam gelesenes Buch weist diesen Zustand meist nicht mehr auf. Beriebene, bestoßene oder verstaubte Kanten, Knicke in den Seiten, verschmutzte Umschläge, Knicke im Rücken (sei es bei Pergament oder Papier), Abklatsch vom Leder oder den Graphiken, Fingerflecke, Stockflecke etc. – all dies sind Mängel, die eine Makellosigkeit ausschließen und dem potenziellen Kunden genau angezeigt werden sollten, damit er weiß, was ihn erwartet.
 
Ich erinnere mich noch gern an einen Anruf des verstorbenen Kollegen Hartmut Erlemann, der bei seinen Beschreibungen immer äußerst penibel und genau war. Auch deshalb habe ich gerne bei ihm gekauft. Er hatte sich das von mir bestellte Büchlein noch einmal genauer angesehen, mit seiner Beschreibung verglichen und noch einen weiteren kleinen Mangel entdeckt, auf den er mich noch hinweisen wollte. Welch ein Service – das bleibt in guter Erinnerung und hinterlässt keinen Ärger oder schalen Beigeschmack, wenn man in freudiger Erwartung ein Buch auspackt, dass zwar als „tadellos“ beschrieben wurde, in Wahrheit aber mit dem Zustand von Altpapier deutlich mehr gemeinsam hat.